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Historismus

  • Autorenbild: Andreas Bricks
    Andreas Bricks
  • 27. Mai
  • 3 Min. Lesezeit

ca. 1850 - 1914 n.Chr.


Schloss Neuschwanstein im Sonnenuntergang
Schloß Neuschwanstein

Steinerne Echo der Vergangenheit: Die Prachtbauten des Historismus


Ah, der Historismus! Stell dir eine Epoche vor, in der sich die Architektur förmlich in einem riesigen Geschichtsbuch verliert, jede Seite aufschlägt und sich von den Stilen vergangener Jahrhunderte inspirieren lässt. Es ist keine Zeit des einheitlichen, neuen Stils, sondern vielmehr eine faszinierende Wiederbelebung und Neuinterpretation dessen, was bereits existierte. Im Grunde ist der Historismus eine architektonische Reise durch die Zeit, bei der Bauwerke Zitate aus Romanik, Gotik, Renaissance, Barock und sogar dem Klassizismus aufgreifen und in neuen Kontexten präsentieren.


Diese Strömung, die etwa von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in voller Blüte stand, entsprang einem tiefgreifenden Wandel im gesellschaftlichen und kulturellen Klima. Das Bürgertum war auf dem Vormarsch, das Nationalgefühl erstarkte in vielen europäischen Ländern, und die Industrialisierung brachte neue Materialien und Bautechniken hervor. Gleichzeitig herrschte eine gewisse Unzufriedenheit mit dem nüchternen Funktionalismus und dem als "stilarm" empfundenen Klassizismus der vorangegangenen Jahrzehnte. Man sehnte sich nach Pracht, nach Repräsentation und nach einer Verbindung zur ruhmreichen Vergangenheit.


So entstanden Bauwerke, die mal an trutzige mittelalterliche Burgen erinnerten (Neugotik, Neoromanik), mal die Eleganz italienischer Palazzi zitierten (Neorenaissance), mal den verschwenderischen Dekor des Barock aufgriffen (Neobarock) oder die klaren Formen griechischer und römischer Tempel neu interpretierten (Neoklassizismus, wobei dieser auch schon eine frühere Epoche bezeichnet, hier aber in einer neuen Ausprägung auftrat). Oftmals wurden diese Stile auch eklektisch miteinander vermischt, wodurch Gebäude entstanden, die eine faszinierende, manchmal auch etwas überladen wirkende Vielfalt an historischen Elementen aufwiesen.


Die Wahl des jeweiligen historischen Stils war dabei selten zufällig. Sie diente oft dazu, die Funktion des Gebäudes oder die Ideologie des Bauherrn zu unterstreichen. So wurden beispielsweise Kirchen gerne im neugotischen Stil errichtet, um an die Blütezeit des christlichen Glaubens im Mittelalter anzuknüpfen. Prachtvolle Theater und Opernhäuser erstrahlten oft im Neobarock, um an die glanzvollen höfischen Künste zu erinnern. Verwaltungsgebäude und Museen präsentierten sich gerne im klassizistischen oder renaissancistischen Gewand, um Seriosität und kulturelle Bedeutung auszustrahlen.


Diese Epoche brachte eine beeindruckende Anzahl an monumentalen Bauwerken hervor, die bis heute das Stadtbild vieler europäischer Metropolen prägen. Denke beispielsweise an das Neuschwanstein in Bayern, ein Märchenschloss König Ludwigs II., das die romantische Vorstellung des Mittelalters in Stein verewigt. Oder an den Reichstag in Berlin, dessen imposante Kuppel und die neobarocken Elemente den Anspruch des Deutschen Kaiserreichs auf Größe und Macht symbolisierten. Auch die Opéra Garnier in Paris mit ihrem opulenten Dekor ist ein herausragendes Beispiel des Neobarock. In Wien sei das Rathaus im neugotischen Stil oder das Burgtheater im Stil der Neorenaissance genannt.


Hinter diesen beeindruckenden Bauten standen bedeutende Architektenpersönlichkeiten, die das architektonische Vokabular der Vergangenheit meisterhaft beherrschten und es in ihren Werken auf innovative Weise einsetzten. Namen wie Gottfried Semper, der unter anderem das Burgtheater in Wien entwarf und wichtige theoretische Schriften zum Historismus verfasste, oder Karl Friedrich Schinkel, dessen Einfluss zwar schon in die Zeit des Klassizismus fällt, dessen Ideen aber im Historismus weiterwirkten, sind hier zu nennen. Auch Eugène Viollet-le-Duc in Frankreich, der sich intensiv mit der Restaurierung mittelalterlicher Bauten beschäftigte und dabei oft auch eigene Interpretationen einfließen ließ, prägte die neugotische Bewegung maßgeblich.


Der Historismus war also weit mehr als nur eine simple Nachahmung alter Stile. Es war eine komplexe und vielschichtige Epoche, die von einem tiefen Geschichtsbewusstsein, einem Bedürfnis nach Repräsentation und dem gekonnten Einsatz neuer Bautechniken geprägt war. Auch wenn der Historismus später von neuen architektonischen Strömungen abgelöst wurde, so haben seine beeindruckenden Bauwerke bis heute nichts von ihrer Faszination verloren und zeugen von einer Zeit, in der die Architektur die Vergangenheit feierte und gleichzeitig in die Zukunft blickte.

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